12.07.2021
Das Tablet in der Schule – eine zweischneidige Sache
Corona hat die Digitalisierung der Schulen stark beschleunigt. Vielerorts wurden Tablets eingeführt. Sie eröffnen neue Bildungsinhalte und neue Lernformen. Doch birgt die Technik Fallstricke.
Die Corona-Pandemie hat dem Bildungssystem weltweit einen Digitalisierungsschub beschert, der angesichts internationaler Vergleichsstudien zur Ausstattung von Schulen im deutschsprachigen Raum längst überfällig erschien und für viele eine Bildungsrevolution darstellt. Der entscheidende Schritt dabei: Tablets für alle Lernenden, ermöglicht nicht zuletzt durch grosse Finanzspritzen der Bildungspolitik. Aber wo Licht ist, da ist auch Schatten, und gerade was die Digitalisierung anbelangt, lohnt es sich, genau hinzusehen. Denn bei aller Euphorie angesichts des Geldsegens: Digitalisierung hat eine Reihe von Fallstricken, die besonders in Tablet-Klassen sichtbar sind und die empirische Bildungs-forschung offenlegt.
Fehlende Querverweise
In mittlerweile unzähligen Studien konnte gezeigt werden, dass die Mitschrift von Lerninhalten mit Papier und Bleistift allen Formen digitaler Notizen in vielfacher Hinsicht überlegen ist – egal, ob das Keyboard, das Tablet oder das Smartphone zum Einsatz kommt. So können Lernende schneller per Hand auf Papier schreiben, als sie tippen oder digital schreiben, was Lernzeit spart. Darüber hinaus sind in den analogen Aufzeichnungen Querverweise zu erkennen, die bei digitalen fehlen und die somit auf eine erhöhte kognitive Verarbeitung hinweisen. Diese lässt sich nicht nur in anschliessenden Leistungstests feststellen, sondern auch in neurologischen Messungen: Die Gehirnaktivität ist beim analogen Schreiben grösser als beim digitalen Schreiben.
Gerade was die Möglichkeiten des Tablets anbelangt, wird man einwenden: Das kann alles nicht sein, ist die Technik heute doch so weit, dass sie analoge Prozesse eins zu eins abbilden kann – das digitale Schreiben auf dem Tablet ersetzt doch vollumfänglich das analoge Schreiben mit Papier und Bleistift.
Auf den ersten Blick mag das stimmen, auf den zweiten Blick offenbaren sich aber die Fallstricke. Beispielsweise vergrössern Lernende, wenn sie auf Tablets schreiben, die Ansicht so stark, dass sie nur noch das zu schreibende Wort sehen und damit den ganzen Text aus den Augen verlieren. Tafelbilder, die abfotografiert sind, befinden sich zwar auf der Festplatte, aber nicht im Kopf. Und auch die Möglichkeit, mit Copy und Paste schnell und einfach Texte umzubauen, hat nicht nur Vorteile. Mag sie für Schriftstellerinnen und Schriftsteller effektives Arbeiten eröffnen, nimmt sie Lernenden wichtige Wiederholungsschleifen. Denn das Korrigieren von Fehlern und das erneute Schreiben hinterlassen im Gedächtnis Spuren, die entscheidend für Lernerfolg sind.
Zum Lesen und Lernen existieren ähnliche Ergebnisse. Zwar können auch diese Vorgänge digital vonstattengehen und tun es tagtäglich wohl schon häufiger als analog. Allerdings weisen Studien darauf hin, dass das Lesen von und Lernen mit analogen Texten nachhaltiger ist, weil langsamer und damit tiefgründiger gearbeitet wird als mit digitalen Texten. Diese werden häufig schnell weggewischt, was der Sinnentnahme und dem Leseverständnis schadet.
An diesen Beispielen zeigen sich denn auch die grössten Herausforderungen im erzieherischen Bereich: Das eigene Lernen digital zu organisieren und zu strukturieren, gewissenhaft und gründlich zu arbeiten, Techniken des Schreibens und des Lesens zu entwickeln, sich Lernstrategien anzueignen, regelmässig zu wiederholen und zu üben, all das sind Aspekte des Lernens, für die in Zeiten der Buchkultur mehrere Jahre in der Grundschule verwendet werden, damit sie funktionieren.
Wer nun glaubt, dass dies in Zeiten der Digitalisierung einfacher sei und per Knopfdruck passiere, der verkennt auf dramatische Art und Weise die Möglichkeiten und die Grenzen von digitalen Medien. Kinder und Jugendliche verstehen sich zwar auf digitale Medien und werden mit ihnen gross, aber der sinnvolle Umgang ist erst zu erlernen.
Nicht zu vergessen ist an dieser Stelle das Ablenkungspotenzial bei Tablets: Die Vielzahl an Nutzungsmöglichkeiten, die zunächst so positiv erscheint, kann zum Nachteil gereichen, weil sie in jeder Sekunde Reize liefert, etwas anderes zu tun, sich von Programmierungen beeinflussen und von der eigentlichen Tätigkeit abbringen zu lassen. Der Umgang mit Tablets ist also nicht per se lernförderlich, er kann auch lernhinderlich sein. Das digitale Aufrüsten der Kinderzimmer birgt Gefahren, denen nur in Kooperation mit dem Elternhaus Einhalt zu gebieten ist. Denn erzieherische Aufgaben erfordern immer das Zusammenwirken aller Beteiligten.
Entrümpelung der Fächer
Natürlich eröffnen Tablets neue Bildungsinhalte und können dadurch Bildungsrevolutionen ermöglichen. Aber dies erfordert mehr als nur Technik. Denn erst dann, wenn ein Bildungsinhalt einen innovativen Bildungsgehalt mit sich bringt, wird es interessant. Schulbücher also eins zu eins von analog auf digital zu setzen, mag zwar die Schultasche erleichtern, aber der Einfluss auf das Lernen, und erst recht auf die Bildung, geht gegen null. Stattdessen bieten Tablets die Chance, manche (sicherlich nicht alle) bewährte Bildungsinhalte methodisch auf eine Art und Weise zu behandeln, wie es analog nicht möglich ist. Dadurch kommt es zu einem didaktischen Gewinn an Bildungsgehalt.
Zu denken ist beispielsweise an die klassische Aufgabe des Aufsatzschreibens, die mithilfe einer Digitalisierung in eine zeit- und raumüberschreitende Kooperation mit einer Autorin oder einem Autor übergeführt und in einer kleinen Filmproduktion umgesetzt werden kann. Neben den typischen Zielen des Deutschunterrichts kommen weitere medienerzieherische Aufgaben bereichernd hinzu. Tablets sind dann nicht nur digitale Medien des Unterrichts, sondern werden selbst zum Bildungsgegenstand, weil eine stete kritisch-konstruktive Reflexion im Umgang damit gefordert ist.
Es liegt auf der Hand, dass diese Möglichkeiten einerseits auf den klassischen Aufgaben aufbauen und andererseits neue Lernzeit brauchen. Ohne eine Lehrplanreform, die nicht erst seit der Corona-Pandemie längst überfällig ist, kann dieser Schritt nicht gelingen. In deren Zentrum steht sowohl eine Neugewichtung als auch eine Entrümpelung der Fächer.
Damit verbindet sich eine Stärkung des musischen Bereiches ebenso wie eine Abkehr von einer fachlichen Reduktion samt einer Separierung des Geistes hin zu einem interdisziplinären Denken. Dieses ist nicht nur lebensnäher, motivierender und herausfordernder, sondern auch bildungswirksamer. Dass damit auch eine Reform des Unterrichts einhergehen muss, liegt auf der Hand: Überfachliches Arbeiten an neuen Themen braucht Teamarbeit in den Kollegien ebenso wie eine klare Ausrichtung auf gemeinsame Qualitätskriterien.
Bald schon digitaler Schrott?
Wer also den Schritt geht, Tablet-Klassen zu fordern und zu implementieren, der muss sich im Kern zu zwei Aspekten grundlegend Gedanken machen. Erstens erfordert die Einführung einer Tablet-Klasse eine kritisch-konstruktive Begleitung der Lernenden, eine Miteinbeziehung der Eltern und eine Professionalisierung der Lehrpersonen. Zweitens muss eine Lehrplanreform hinzukommen. Andernfalls droht den Tablets, was die Sprachlabore vor Jahren ereilt hat: als digitaler Schrott zu enden, der zuerst kostenintensiv angeschafft wurde, lange stillstand und schliesslich teuer entsorgt wurde. In allen Ländern der Welt haben sich die Ausgaben für die Digitalisierung im Bildungsbereich in den letzten Jahren dramatisch erhöht, ohne dass man bis heute einen vergleichbar grossen, meistens sogar nicht einmal einen messbaren Effekt auf die Lernleistungen feststellen kann.
Prof. Dr. Klaus Zierer, Universität Augsburg
[Quelle: NZZ 2.7.2021]
Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Zuletzt ist 2021 bei Kösel erschienen: «Ein Jahr zum Vergessen. Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern».