10.06.2024 - SonntagsZeitung
Sternchen und Farben statt 1 bis 6
Testlabor Klassenzimmer: Abschaffung der Noten, Integration schwieriger Kinder und Frühfranzösisch
Die Bildungsreformer landauf, landab planen die Schule der Zukunft. Dabei sind die grossen Reformen der letzten Jahre noch nicht verdaut. Manche dieser Neuerungen wurden in Volksabstimmungen bestätigt, andere von der Bildungsverwaltung und der Politik von oben verordnet. Alle haben das gleiche Ziel: die Verbesserung des Unterrichts. Aber wirklich gemeinsam ist bei sämtlichen dieser grossen Reformen vor allem eines: Sie sind stark umstritten.
Keine Noten mehr: Die Suche nach dem richtigen Bewertungs-System
Aktuell dreht sich eine neue Debatte um die Abschaffung der Noten. Die «Starke Schule beider Basel», ein Verein von Lehrpersonen und Eltern, hat dazu in den beiden Halbkantonen eine Umfrage durchgeführt, an der 666 Lehrpersonen, Mütter, Väter und Bildungsinteressierte teilgenommen haben. Das Ergebnis, das diese Woche publiziert wurde: Nur knapp ein Fünftel der Befragten will die Noten an den Volksschulen streichen.
Die Befragten gaben auch an, ab welcher Klasse Noten verteilt werden sollen. Jeder Dritte wünscht sich hier die 3. Primarklasse.
Doch der Trend geht in die andere Richtung. Statt Noten verteilen manche Schulen Sternchen, Sünneli, Raketen, Krönchen, ein Smiley und Blüemli. Die Diskussion hat Schub bekommen, als die Stadt Luzern kürzlich entschied, auf Prüfungsnoten zu verzichten. Stattdessen setzt man auf Feedback-Gespräche oder «Kompetenzraster». Am Schluss gibt es trotzdem Noten - im Zeugnis.
In den Kantonen Zürich, St. Gallen und Aargau haben bereits mehrere Schulen die Prüfungsnoten gestrichen. So etwa die Primarschule Rotmonten-Gerhalde SG, die unter dem Jahr auf ein 4er-Raster setzt: «Klappt noch nicht», «gelingt teilweise», «kannst du gut», «kannst du sehr gut». Die Primarschule im aargauischen Birmenstorf verzichtet seit vielen Jahren auf Noten zwischen den Zeugnissen, an der Schule Hochfeld in Bern gilt das seit letztem August für alle Stufen.
Sogar in Sekundarschulen werden die Ziffern 1 bis 6 für Prüfungen abgeschafft. Zum Beispiel an der Oberstufe Centrum in St. Gallen. In Wädenswil ZH haben Lehrpersonen von Prüfungsnoten auf Farben umgestellt: Die Jugendlichen setzen sich zu Beginn des Semesters für jedes Fach eine Zielnote. Die Lehrer und Eltern würden bei der «Setzung der Zielnote» einbezogen, betont die Schule. Haben die Schüler diese Zielnoten übertroffen, gibt es beispielsweise Pink, erreichen sie diese, gibt es Grün. Und Orange, wenn sie darunter liegen.
Schlechte Noten seien demotivierend, argumentieren die Abschaffungsbefürworter. An vorderster Front weibelt Thomas Minder, Präsident des Schweizer Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter. Er sagt: «Noten korrumpieren das Lernen. Anstatt den Fokus auf Lerninhalten zu haben, zielen die Lernenden auf die Note.» Ganz schlimm sei es, wenn Eltern noch eine Geldprämie für gute Noten in Aussicht stellten. Denn Kinder hätten generell einen Antrieb, zu lernen.
Noten mag eigentlich kaum jemand. Nur: Gibt es ein besseres System? Nein, sagen die Notenbefürworter. Das 1-bis-6-System ermögliche eine schnelle Rückmeldung und sei nicht mehrdeutig. Eine Drei ist ungenügend, das versteht jeder. Dagegen sei eine Bewertung mit Worten oder einem Smiley interpretationsbedürftig. Es fragt sich auch, wie so entstandene Zeugnisnoten einem allfälligen Rekurs standhalten würden.
Im Kanton Zürich hat das Parlament die Notenabschaffer in die Schranken gewiesen und die Pflicht zur Zeugnisnote ins Volksschulgesetz geschrieben - damit diese nicht auch noch ins Wanken geraten.
Was die Abschaffung von Prüfungsnoten bewirkt, ist kaum bekannt - ein Experiment am Kind. «Es liegen praktisch keine Forschungsergebnisse darüber vor, welche Schule besser funktioniert: jene mit Noten oder die ohne», sagt der Schweizer Bildungsforscher Stefan Wolter. Hingegen sei gut untersucht worden, wie sich die Notengebung auf die Leistung auswirkt. Resultat: «Mit einer strengen Notengebung bringen Schülerinnen und Schüler bessere Leistungen, als wenn der Lehrer bei der Beurteilung Milde walten lässt.»
Stefan Wolter hörte kürzlich von einer Schule, an der den Kindern ein Baum mit Ästen präsentiert wurde. War die Leistung nicht gut, wurden Äste vom Baum abgeschnitten. Inwiefern diese Rückmeldung motivierend sein solle, so Wolter, sei ihm ein Rätsel.
Alle Kinder in die Regelklassen? Das bringt Lehrkräfte ans Limit
2004 trat in der Schweiz das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Damals gab die Bildungspolitik unter dem Stichwort «Inklusion» ein grosses Versprechen ab: Alle Kinder, egal wie verschieden sie sind, sollen nach Möglichkeit im regulären Unterricht Platz finden. Das gilt auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, psychischen Problemen, Lernschwierigkeiten und Verhaltensstörungen. Niemand soll ausgegrenzt werden.
Laut Bildungsbericht 2023 bekommen rund 4 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in der obligatorischen Schule sonderpädagogische Massnahmen. Knapp die Hälfte davon wird in normalen Regelklassen unterrichtet. Doch zwischen den Kantonen gibt es grosse Unterschiede.
Eine St. Galler Untersuchung des Bildungsökonomen Aurélien Sallin kommt zum Schluss, dass inklusive Schulen hinsichtlich der Leistung und der Arbeitsmarktintegration besser abschneiden - das gelte für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen genauso wie für die Begabten. Entscheidend sei aber eine ausgeglichene Zusammensetzung der Klassen. Zu diesem Schluss kommt auch Simone Balestra, Forscher an der Universität St. Gallen: Bei einem hohen Anteil von integrierten Kindern und Jugendlichen in einer Klasse gebe es einen Kippeffekt - das heisst: Die schulische Leistung der Mitschülerinnen und Mitschüler sinkt.
Vor allem verhaltensauffällige Schüler und Schülerinnen bringen Klassen und Lehrpersonen ans Ende ihrer Kräfte. Viele Lehrerinnen und Lehrer berichten von der Not im Klassenzimmer. Im Kanton Aargau führte ihr Verband letztes Jahr eine Umfrage durch. Ergebnis: Das Konzept der inklusiven Schule ist am Anschlag.
Im Kanton Bern hat das Parlament im November entschieden, dass die Gemeinden wieder vermehrt Kleinklassen anbieten können, wenn die integrative Schule ans Limit kommt.
In Basel-Stadt hat die Freiwillige Schulsynode, die Gewerkschaft der Lehrerinnen und Lehrer, die «Förderklassen-Initiative» eingereicht. Ziel: die Wiedereinführung von Kleinklassen. Laut Erhebungen sitzen im Schnitt drei bis vier verhaltensauffällige Kinder in einer Klasse.
In Zürich sammelt ein überparteiliches Komitee mit Vertretern aus FDP, GLP und SVP derzeit Unterschriften für eine Initiative, die eine Rückkehr zum Kleinklassenmodell im Kanton fordert. «Ein Blick in die Klassenzimmer zeigt, dass das Schulsystem am Anschlag ist», sagt Schulleiterin Yasmine Bourgeois, Co-Präsidentin des Initiativkomitees und Stadtzürcher FDP-Gemeinderätin.
Die Kinder hätten je nach Bedarf unterschiedliche Lernprogramme und verschiedene Ansprechpersonen - vom Lehr- und Therapiepersonal über Heilpädagoginnen bis hin zu Klassenassistenzen. Das Kommen und Gehen während des Unterrichts sorge für Unruhe und Überforderung der Kinder, sagt Yasmine Bourgeois. «So geht es nicht weiter.»
Lernen im Alleingang: «Hat sich nicht bewährt»
Die Losung, die durch viele Schulstuben zieht, heisst selbst organisiertes Lernen (SOL). So sollen Schülerinnen und Schüler motiviert und ihnen Eigenverantwortung beigebracht werden. Weit gediehen ist das Lernen im Alleingang an der Oberstufenschule in Wädenswil ZH: Hier lernen alle 600 Schülerinnen und Schüler in rund einem Drittel der Unterrichtszeit «selbst organisiert» in alters- und stufendurchmischten Lernlandschaften.
Auch an Basler und Luzerner Schulen soll die Schülerschar selbst gesteuert lernen. In der Stadt Zürich gibt es seit 2020 solche Projekte bereits auf der Mittelstufe. Damit sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, ein eigenes Projekt von A bis Z zu planen und durchzuführen. Zum Beispiel ein Labyrinth für ein Meerschweinchen zu zimmern.
Doch die Methode, die als Konzept der Zukunft gefeiert wird, ist umstritten. Manche Lehrkräfte und Eltern fürchten, dass es zu einer Überforderung und zu Wissenslücken kommt.
«Dass Schülerinnen und Schüler selbstständig an ihren Lerndefiziten arbeiten, hat sich an unserer Schule nicht bewährt», sagt Christoph Ziegler. Er ist Sekundarlehrer in Elgg ZH, Kantonsrat der Grünliberalen und Ex-Präsident der Bildungskommission. «Viele Jugendliche», so Ziegler, «haben Mühe, auf sich allein gestellt konzentriert zu arbeiten. Sie müssen angeleitet werden.»
Die SOL-Euphorie, sagen Kritiker, sei der Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen: Schüler sollen selbstständig lernen, weil Lehrpersonen fehlen - es handle sich um eine versteckte Sparmassnahme.
Frühfranzösisch: Der Unterricht an der Primarschule wird überprüft
Gemäss Sprachenkonzept der Erziehungsdirektorenkonferenz beginnen die Kantone spätestens in der dritten Primarklasse mit der ersten Fremdsprache, spätestens im fünften Schuljahr mit der zweiten. Doch vor allem Frühfranzösisch ist umstritten.
Im Kanton Basel-Landschaft muss die Regierung nach einem Parlamentsbeschluss den Französisch-Unterricht in der Primarschule einer Prüfung unterziehen. Eine Standortbestimmung des Sprachenkonzepts soll die Grundlage liefern für den Entscheid, ob Frühfranzösisch abgeschafft wird.
Auch im Kanton Bern muss die Regierung «die Sinnhaftigkeit des Frühfremdsprachenerwerbs» prüfen, nachdem das Parlament im März mit grosser Mehrheit eine entsprechende Motion überwiesen hat. Die Berner Bildungsdirektion wehrte sich dagegen: «Die Forschung weist nach, dass die Sinnhaftigkeit des Frühfremdsprachenerwerbs gegeben ist.»
Davon kann jedoch keine Rede sein. Denn die Auswirkungen der Schulreform auf die Fremdsprachenkenntnisse wurden kaum untersucht, «da in der Schweiz keine standardisierten Tests für Fremdsprachenkenntnisse durchgeführt werden», wie eine Studie von Maurizio Strazzeri, Chantal Oggenfuss und Stefan C. Wolter feststellt. Sie fanden jedoch «eindeutige Belege dafür, dass ein höherer Anteil an Fremdsprachenunterricht in den Lehrplänen negative Auswirkungen auf die Schullaufbahn männlicher Schüler haben kann».
Die mit grossen Versprechungen und hohen Kosten lancierten neuen Lehrmittel versagten im Praxistest, besonders «Mille feuilles» und «Clin d’œil» für den Französisch-Unterricht. Eine Evaluation am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg im Auftrag der Kantone ergab 2019: Nur eines von drei Kindern erreichte im Leseverstehen das Lernziel. Im Sprechen, dem Lernziel, auf das besonders Wert gelegt wurde, schaffte es gar nur eines von zehn Kindern. Der Bericht wurde schubladisiert, doch die Forscher stellten ihn ins Netz. Fazit: «Ein beachtlicher Teil der Schüler/innen erreicht am Ende der Primarstufe auch ein elementares Niveau bei den Sprachkompetenzen nicht.»
Im Kanton Basel-Landschaft lancierte die Starke Schule beider Basel eine Volksinitiative für Lehrmittelfreiheit. Sie wurde 2020 mit 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Die Lehrerschaft stieg sofort auf alternative Lehrmittel um. Gemäss einer Erhebung des Amts für Volksschulen arbeiteten schon 2021/2022 nur noch 7 Prozent der Schülerinnen und Schüler in der 1. Sekundarschule mit «Clin d’œil».
Während viele Bildungspolitiker und die Bildungsbürokratie in den Kantonen weiterhin an den Erfolg ihrer Schulreformen zu glauben scheinen, hat der Wind in der Bildungsforschung gedreht. Die Sprachforscherin Simone Pfenninger und ihr Kollege David Singleton zeigten in einer Langzeitstudie, dass Frühstarter gegenüber Spätstartern im Fremdsprachenunterricht keine Vorteile haben.
Raphael Berthele, Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Freiburg, hat die Forschung und deren Empfehlungen an die Politik in einer wissenschaftlichen Studie selbstkritisch analysiert. Studien im Bereich der Fremdsprachen seien «durch vage Theorien und eine optimistische Sicht auf den Sprachunterricht und das Sprachenlernen gekennzeichnet». «Wenn der frühe Französischunterricht nicht die erwarteten Ergebnisse bringt, ist es unsere Pflicht, dies zu berichten und die Annahmen zu hinterfragen, die zu der politischen Empfehlung geführt haben.» Es bestehe «die Gefahr, dass pädagogische Reformen, die auf festen Überzeugungen, aber schwachen Beweisen beruhen, den Schwachen schaden, während begabte Lernende wahrscheinlich auch in den abenteuerlichsten pädagogischen Paradigmen lernen».
Lehrplan 21: Die grosse Reform hat ihr Ziel verfehlt
Ab 2015 hielt in den Schweizer Schulstuben ein neues Bildungssystem Einzug: Der Lehrplan 21 beschreibt nicht mehr, welche Inhalte die Lehrer unterrichten sollen, sondern welche «Kompetenzen» die Schüler beherrschen müssen. Er sollte eine Bildungsrevolution auslösen.
Ziel der Reform war eine Harmonisierung der Volksschule. Ein verbindliches Konzept aus Grundanforderungen und erweiterten Kompetenzzielen sollte sicherstellen, dass die Qualität gewährleistet und überprüfbar ist.
Gemessen an diesen Zielen ist die Reform gescheitert. Die Leistungen sind nicht besser, sondern schlechter geworden, wie die Pisa-Tests zeigen: Im Lesen und in der Mathematik zeigt der Trend nach unten. Mangels Untersuchungen lässt sich nicht sagen, wie das mit den Schulreformen zusammenhängt. Aber die schlechten Resultate geben den Reformskeptikern Auftrieb.
Bei den Fremdsprachen ist die Harmonisierung nicht gelungen, es ist ein Flickenteppich entstanden, 14 Kantone beginnen mit Englisch, 6 mit Französisch. Die Opposition gegen die Einführung des Lehrplans scheiterte zwar in 14 Kantonen. Aber im Kanton Baselland wehrte sich die Starke Schule beider Basel mit Volksinitiativen und politischen Vorstössen erfolgreich. Um einen Austritt des Kantons aus dem Konkordat zu verhindern, degradierte die Erziehungsdirektorenkonferenz den Lehrplan 21 zu einer «Mustervorlage».
Baselland liess den Lehrplan 21 offiziell bestehen, entwickelte jedoch mit der Lehrerschaft einen praxistauglichen Stofflehrplan. Statt 47 Seiten mit 270 Kompetenzen umfasst dieser zum Beispiel im Fach Mathematik noch 11 Seiten, definiert die Stoffinhalte und setzt klare Jahreslernziele. «Die Lehrkräfte sind frei, aber von den mehr als hundert, die ich kenne, arbeitet natürlich niemand mehr mit dem Lehrplan 21», sagt der Sekundarlehrer Jürg Wiedemann, ehemaliger Kantonspolitiker und Sprecher der Starken Schule beider Basel.
In den anderen Kantonen gilt der Lehrplan 21 weiterhin. «Aber das wird von den Lehrkräften unterlaufen», sagt der Berner Bildungspolitiker und Lehrer Alain Pichard. Auch der Zürcher Bildungspolitiker Hanspeter Amstutz sagt, dass die Lehrkräfte «zu ihrem Schutz den Lehrplan einfach ignorieren».
«Die Schulen sind nicht so gut wie ihre Reformen, sondern so gut wie ihre Lehrer», stellte Rolf Dubs, ehemaliger Professor für Wirtschaftspädagogik, vor 25 Jahren fest. Daran hat sich nichts geändert.
Armin Müller und Nadja Pastega
Journalisten der SonntagsZeitung
[Quelle: SonntagsZeitung vom 9. Juni 2024, abgedruckt mit Erlaubnis der SZ]