28.04.2023
Kleinklassen oder integrative Schule?
Die Stellung der integrativen Schule wird stark diskutiert. In zahlreichen Kantonen wird diese extensive Integration hinterfragt und sogar durch politische Vorstösse und Initiativen politisch bekämpft. In seinem Artikel und im Interview mit der pensionierten Heilpädagogin Eliane Perret geht Daniel Wahl der Geschichte und der Wirkung der integrativen Schule nach.
In einigen Kantonen ist die integrative Schule politisch unter Beschuss. Man fordert für Verhaltensauffällige die Wiedereröffnung von Kleinklassen, wenn auch unter anderen Namen wie «Förderklassen». Deswegen sind kürzlich die Heilpädagogen in die Gegenoffensive gegangen. Sie verteidigen «ihr Erbe» – die integrative Schule – und halten separative Lösungen wie Sonderschulen für verfehlt.
Eliane Perret (72) leitete von 1992 bis 2020 in Zürich eine Tageschule für Kinder und Jugendliche mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten. Die Autorin, Heilpädagogin und Psychologin ordnet die Abwehrreflexe ein.
Frau Perret, viele Heilpädagogen verbreiten das Bild, Sonderschulen seien stigmatisierend. Sie sind Heilpädagogin und waren Mitbegründerin einer Sonderschule am Toblerplatz in Zürich. Ist diese stigmatisierend?
Eliane Perret: Das hört man eventuell von Kollegen, die im Rahmen der Integration arbeiten. Das wird aus meiner Sicht dem Problem nicht gerecht. Es geht doch darum, mit den betroffenen Kindern einen Weg zu finden, ohne ihr Problem zu bagatellisieren, damit sie wieder eine Perspektive für ihr Leben sehen. Für das eine Kind kann das integrative Modell gut sein, für ein anderes ist es eine Sonderschule.
Warum verteidigen die Heilpädagogen die integrative Schule?
Vielleicht, weil sie so ausgebildet und überzeugt davon sind, dass ihr Berufsauftrag so am besten erfüllt wird. Ich bin im Übrigen nicht gegen Integration, aber nicht für jedes Kind. Aber das müssen Sie diese Heilpädagogen selber fragen.
Worauf kommt es an, ob eine Schule stigmatisierend ist oder eben nicht?
Es gibt kein Rezept. Entscheidend ist das Bild der Lehrperson vom Kind. Wie erklärt sie sich, dass es Schwierigkeiten hat? Ist es ein Kind wie die anderen, das aktuell Unterstützung braucht oder betont sie dessen Sonderstatus? Es ist vor allem ihre eigene innere Einstellung, die Beziehung zum Kind, die entscheidet. Die Klasse übernimmt oft die Stimmung der Erwachsenen gegenüber solchen Kindern. Die Frage der Stigmatisierung steht im Übrigen im Raum, seit ich Lehrerin bin.
Wenn ich Sie richtig verstehe, hängt «Stigmatisierung» nicht vom Schulmodell ab.
Ja. Ein Blick in die integrative Schule zeigt, dass der Unterricht dort unter Umständen nicht weniger stigmatisierend ist. Kinder realisieren schnell: Immer, wenn diese Frau – also die Heilpädagogin – ins Zimmer kommt, setzt sie sich zu Max, weil er nicht mitkommt. Die anderen Kinder sehen es auch: Max braucht spezielle Arbeitsblätter. Und er selbst beobachtet, dass sein Banknachbar schwierigere Aufgaben löst.
Wie bewusst ist es den Kindern, dass sie nun selbst Sonderschüler sind?
Das ist ihnen sehr wohl bewusst, aber es kommt auch darauf an, wie seine engeren Beziehungspersonen sich dazu stellen. Bis ein Kind in eine Sonderschule kommt, hat es einen längeren Abklärungsprozess hinter sich. Man hat verschiedenes versucht, um die Situation zu verbessern und das ist nicht gelungen. Die Kinder haben also eine lange Zeit des Scheiterns hinter sich, das tut weh. Auch für die Eltern ist es nicht einfach zu akzeptieren, dass es mit ihrem Kind in der Regelklasse nicht mehr geht. Sie haben im Vorfeld oft viele Telefonanrufe erhalten, haben tausendmal gehört, dass ihr Kind gestört hat, die Ufzgi nicht macht, schlechte Noten hat usw. Das ist auch für sie belastend. Als Eltern hat man doch Träume für sein Kind, und die scheinen in sich zusammenzufallen. Wenn die Eltern und das Kind nach dieser Phase wieder eine positive Perspektive sehen, bereuen sie den Schritt in die Sonderschule nicht.
Als Vater würde ich mir permanent die Frage stellen, was ich falsch gemacht habe, müsste ich mein Kind auf die Sonderschule schicken. Ist diese Frage zentral?
Nein, das ist ein falscher Ansatz. Es geht nicht um die Schuldfrage. Es geht darum, gemeinsam einen Weg zu finden, wie man dem Kind helfen kann. Offensichtlich muss es etwas Neues lernen, im sozialen Miteinander oder beim Lernen. Das braucht eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Worauf läuft das hinaus?
Das ist unterschiedlich. Heute haben wir viele Kinder, die darauf bauen, dass ihnen Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden. Sie haben zu wenig lernen können, sich für etwas anzustrengen und versuchen Anforderungen aus dem Weg zu gehen. Dazu kann ein breites Spektrum an Verhaltensauffälligkeiten gehören. Sie brauchen nun die Anleitung und die Hand im Rücken von uns Erwachsenen, eingebettet in eine sichere Beziehung, um etwas Neues zu lernen. Sie müssen erfahren, dass sie etwas schaffen, das sie sich bisher nicht zugetraut haben. Das macht sie stark. Eltern wollen es gut haben mit ihren Kindern, wollen am liebsten gute Freunde sein. Aber sie dürfen nicht vergessen, dass sie ihre Tochter oder ihren Sohn auf ihre Lebensaufgaben vorbereiten müssen.
Wie können Sie den Eltern eine solche Korrektur des Erziehungsstils nahelegen?
Auch Eltern sind unterschiedlich, manchmal probierte ich es so: «Ihr Kind wird noch manches lernen müssen, darum kommt es an unsere Schule. Es wird nicht immer zufrieden sein mit uns und zum Beispiel nach Hause kommen und sich über uns beschweren. Dann sollten Sie als Erstes uns anrufen, damit wir die Sache klären.» Es gibt dem Kind Sicherheit, wenn es merkt, dass die Erwachsenen zusammenspannen und sich einigen können.
Lange war die Sonderschule unumstritten. Auch unter Heilpädagogen. Sie sind schon seit den 70er-Jahren dabei. Wann hat sich die Einstellung gegenüber dem Sonderschulsetting geändert?
Eine grosse Frage. Ich möchte etwas weiter ausholen. Im 18. Jahrhundert war es noch so, dass verarmte, verwahrloste, gehörlose oder blinde Kinder vom Regelschulsystem ausgeschlossen waren. Dann gab es Pioniere, die sich diesen Menschen angenommen haben. Sie legten die Grundsteine für die spätere Entwicklung der Heilpädagogik, quasi als Integrationsprojekt. Deshalb ist der Vorwurf historisch falsch, Sonder- und Heilpädagogik hätten zur Aussonderung, Diskriminierung, Etikettierung und Desintegration beigetragen. Im Gegenteil ging es um eine Ausweitung des Erziehungs- und Bildungsbegriffes, für den sich die Pädagogik damals mit wenigen Ausnahmen nicht zuständig sah. Das war der Anfang der Sonderschulung mit differenzierten Angeboten.
Ende der sechziger Jahre begann eine Gegenbewegung, die gemeinsamen Unterricht für alle Kinder, weg von der sogenannten «Separation» forderte, hin zu integrativem/inklusivem Unterricht. Sie lehnte sich an Antipsychiatrie-Bewegung in Italien an mit Franco Basaglia, wo die Psychiatrien geschlossen wurden. Die Forderung nach Integration muss aber auch im Rahmen der ganzen Schulreformen gesehen werden, denn die Lehrpersonen wurden auf diese Weise zum Individualisieren gedrängt.
Es könnte sein, dass nun das Pendel zurückschlägt. In vielen Kantonen wird der Wunsch nach Kleinklassen geäussert. Wie ordnen Sie das ein?
Ich glaube, man hat realisiert, dass die Integration nicht der einzige Weg ist. Es ist übrigens so, dass keine der internationalen und nationalen Vereinbarungen und Verträge die Integration als alleinigen Weg vorgeben.
Durch die Integration sind viele Klassen heute sehr belastet – die Heterogenität und die vielen Personen, die im Schulzimmer ein- und ausgehen. Es benötigt viel Zeit, ständig Absprachen im Team zu treffen und die Zusammenarbeit ist menschlich anspruchsvoll. Lehrpersonen laufen davon, Eltern reklamieren. Die Klassen sind oft sehr unruhig und die Kinder können nicht in Ruhe lernen. Ich habe den Eindruck, dass der Druck inzwischen grösser geworden ist. Nun sucht man nach Lösungen.
Als Lösung schlägt die Hochschule für Heilpädagogik «Schulinseln» vor. Das sind Time-Outs für kurzfristige, zum Teil nur stundenweise Separationen. Ist das der richtige Weg für Verhaltensauffällige?
Ich denke, dass es Notlösungen sind. Ein eher ungutes Gefühl beschleicht mich, weil sich die Diskussion vor allem um verhaltensauffällige Kinder dreht. Wir müssen die Bildungsfrage grundsätzlicher angehen. Letztens hat mir jemand gesagt, und es war jemand, der viel Einblick hat: «Wir sind daran, unser Bildungssystem an die Wand zu fahren.»
Was ist der Grund?
Die vielen Schulreformen der vergangenen Jahre haben das Bildungssystem auf den Kopf gestellt. Als Psychologin meine ich: Ein Kind ist ein soziales Wesen, ein Beziehungswesen. Der Lernprozess ist für ein Kind am effektivsten, wenn es angeleitet wird von Lehrpersonen, zu denen es eine gute Beziehung hat. Das muss Grundlage jeder Schule sein. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das «dialogische Lernen», das gemeinsame Erarbeiten des Lernstoffes mit allen – leistungsstärkeren und -schwächeren Kindern am Gewinnbringendsten ist. Darum ist eine der wichtigsten Aufgaben der Lehrperson, die Klasse zu einer Gemeinschaft zusammenzuführen, in der man einander unterstützt und respektiert.
Wenn ich mich besinne, beziehen sich die meisten Reformen auf den Fächerkanon der Schulen, auf strukturelle Entlastung, was letztlich Lohnreformen für das Lehrpersonal sind. Sehe ich das falsch?
Nein. Bei der ersten Version des Lehrplans 21 gab man den Suchbegriff «Beziehung» vergeblich ein… Die Reformen waren auf struktureller Ebene angesiedelt, verbunden mit Lernumgebungen und individualisierten Lernprogrammen. Heute muss geklärt werden, warum eigentlich so viele Kinder in der Schule und auch sonst Schwierigkeiten haben und ob die eingeführten Reformen etwas damit zu tun haben könnten.
Ob eine Schule stigmatisierend war oder nicht, entscheidet am Ende, ob ein Kind eine gute Anschlusslösung findet, eine Ausbildung machen kann und mit seinem Leben zufrieden ist. Was weiss man darüber?
Es gibt eine Studie aus Deutschland, in denen man ehemalige Sonderschüler befragt hat. Das Fazit der Befragung war, dass die meisten die Sonderschule als die beste Zeit im Leben erlebt haben. Sie hatten endlich Lehrpersonen, die sie verstanden und ihnen Mut machten.
Jedes Kind hat irgendetwas hat, was es gut kann. Sei es gut tschutten, gut lesen oder schön zeichnen. Wir suchen diesen positiven Ansatz, versuchen es dort abzuholen und das Spektrum auszuweiten. Letztlich ist es eine gesellschaftliche Frage, welche Chancen man einem Menschen gibt, der seine Leistung nicht immer bringt.
[Das Interview ist zuerst bei Nebelspalter.ch erschienen.]