27.06.2024
Die Schulreformen der letzten Jahre – ein Rohrkrepierer?
Die Sonntagszeitung outet sich als schulreformkritisch. Das ist gut so und dringend notwendig. Zu lange hat der Mainstream politisch vorgegebene Mantras nachgebetet. Umso dringender die Kehrtwende. Die nächste Reformbombe ist nämlich bereits gezündet: Der Verband schweizerischer Schulleiterinnen und Schulleiter unter der Führung von Thomas Minder und der LCH unter der Leitung von Dagmar Rösler plädieren für die Abschaffung der Noten zumindest in der Primarschule bis und mit sechstem Schuljahr – eine Ausweitung dieser Forderung auf die gesamte obligatorische Schulzeit ist nicht ausgeschlossen und meines Wissens auch schon angedacht. Diese Idee reiht sich ein in ein ganzes Feuerwerk von Schulreformen, die das schweizerische Schulwesen seit gut 20 Jahren in Atem halten. Was bleibt unter dem Strich? Der Versuch einer Einordnung.
Reform über Reform
Der PISA-Schock für Schweizer Schulen im Jahr 2000 mit unbefriedigenden Ergebnissen vor allem in den Bereichen Lesen und Textverständnis führte nach einer ersten Reaktion von Ratlosigkeit zu zurückgekrempelten Ärmeln: Nun machen wir es besser – wir bauen die Schule um!
Weg vom verstaubten, lehrerzentrierten Unterricht. Weg von Inhalten, die niemand mehr interessiert. Weg vom ewigen Auswendiglernen und sofortigen Vergessen. Weg von einer Angstkultur in den Schulen, dafür hin zum Kind und Jugendlichen. Das alles ist bzw. war nicht per se nur schlecht. Schlecht hingegen war der damit verbundene pädagogische Zentralismus, namentlich unter der Fuchtel der EDK und die so überstürzte und weitgehendst unreflektierte, dafür umso enthusiastischere Umsetzung all der gefassten Vorsätze.
Hand in Hand mit diesen Ansagen kam die Umstellung in der Ausbildung der Lehrpersonen an ehemals Lehrerseminaren, nun neu an Fachhochschulen, sowie dem Wunsch vieler Akteure, die Schullandschaft in der 26-Kantone-Schweiz endlich zu harmonisieren. Dahinter stand die Idee, einen gesamt-schweizerischen Lehrplan zu entwerfen, der national verbindlich wäre: HarmoS und der Lehrplan 21 waren geboren. Damit verbunden war auch die Neuorganisation des Fremdsprachenerwerbs an Schweizer Schulen, Stichwort Frühfremdsprachen.
Was wurde versprochen?
Kurz gesagt wurde grossmündig hinausposaunt: Alles wird besser! Oder auch: Weg mit dem Alten! Tabula rasa also. Aber der Reihe nach…
HarmoS
Die Begründung für die dringend notwendige Harmonisierung der Schweizer Schullandschaft (HarmoS) basierte u. a. auf der Ansage, dass es nicht sein könne, dass eine Familie bei einem Umzug z. B. von Baselstadt nach Baselland mit einem komplett anderen Schulsystem konfrontiert sei. Auch sei die Vergleichbarkeit von schulischen Leistungen schwieriger zu erheben bei nahezu 26 verschiedenen Schulsystemen. Das ist nicht falsch. Doch blendet diese These den Umstand aus, dass die pädagogische Schweiz als ein Konglomerat verschiedenster kleinräumiger Kulturen nicht einfach gerettet ist mit einem einfarbigen Anstrich. So wurde dem Tessin i. S. Umstellung auf das nun schweizweit mehrheitlich etablierte 6/3 bereits eine Ausnahme zugestanden, nämlich 5/4 vorerst beizubehalten.
Allerdings ist es mit der Harmonisierung der Anzahl Schuljahre auf der Primar- und Sekundarstufe 1 nicht getan.
Der Lernplan 21
Im Wesentlichen zeichnet sich der Lehrplan 21 dadurch aus, dass er nicht vorgibt, was zu lernen ist, sondern was die Schülerin und der Schüler am Ende ihrer Schulzeit können müssen: Der Begriff «Kompetenz» machte die Runde. Anstatt schlanker stofflicher Übersichten resultierten hunderte von Seiten mit Tausenden von angeblich zu erwerbenden Kompetenzen, die bisweilen derart abstrus formuliert waren, dass man sich beim Lesen dieser Elaborate aus den Fachhochschul-Elfenbeinturmbüros eher im Kabarett wähnte, denn in einer ernsthaften Bildungsdiskussion. Der Begriff «Erziehungswissenschaft» erhielt ein übelriechendes Geschmäckle und die dahinterstehende «Wissenschaft» erschien so manch engagierter Lehrperson als eine Disziplin, die weder vom Schaffen weiss noch Wissen schafft. Doch Hauptsache, es wurde geforscht an den neu entstandenen pädagogischen Hochschulen.
Nach etlichen Druckversuchen auf das Lehrpersonal seitens im Gehorsam vorauseilenden Schul-leitungen ging nach allmählich sich legendem Sturm so manche Lehrerin bzw. mancher Lehrer doch dazu über, den verordneten «Leerplan» zu ignorieren und bei Kontrollen lediglich etwas Fassadenpädagogik zu betreiben, sofern möglich.
Aber - das sei nicht unerwähnt – die Einführung dieses Lehrplanmonsters, verbunden mit einem Wust an Weiterbildungen, liess den Einen oder Anderen Bilanz ziehen, um im schlechtesten Fall den Job als Lehrerin/Lehrer hinzuschmeissen.
Frühfremd…
Der Begriff «Frühfremd» steht für den vorgezogenen Erwerb von Fremdsprachen während der obligatorischen Schulzeit. Anstatt z. B. in der Deutschschweiz mit Französisch und Englisch erst auf der Sekundarstufe 1 zu beginnen, sollte der Unterricht in der ersten Fremdsprache bereits in der dritten, in der zweiten Fremdsprache in der fünften Klasse der Primarschule einsetzen.
Und dann kam die Explosion!
Tatsächlich zerriss die nun einsetzende Diskussion unter den Kantonen das ganze schöngemalte Bild einer weitgehendsten Harmonisierung der Schweizer Schullandschaft - von einer auch nur ansatzweisen Einigung konnte keine Rede mehr sein.
Oui: Französisch als Landessprache zuerst!
No: Englisch in einem zunehmend internationalisierten Umfeld ist wichtiger!
So entstand genau das, was man mit HarmoS verhindern wollte, aber um Potenzen schlimmer. Zieht nun eine Familie mit zwei primarschulpflichtigen Kindern von einem Kanton der Deutschschweiz in einen andern, so ist das jüngere Kind mit der Tatsache konfrontiert, dass der soeben gestartete Französischunterricht dem Unterricht in Englisch weichen muss, während das ältere Kind erkennt, dass es in Französisch mehr kann als seine Klassenkamerädli, jedoch in Englisch weit abgeschlagen ist.
Hinzu kommt, dass verschiedene Erhebungen gezeigt haben, dass die Sprachkompetenz am Ende der Primarschule doch nicht so erhebend ist, wie gedacht. Das liegt zu einem Gutteil an dem versprochenen Sprachbad und den dazu kompatiblen Lehrmitteln. Das Sprachbad glich nämlich eher einer Badewanne, die gerade mal den Boden wasserbedeckt hatte – jede und jeder, die/der sich so wäscht, stinkt zum Himmel.
Zu guter Letzt bewies eine Erhebung der Sprachwissenschaftlerin Simone Pfenninger, dass sog. Spätlerner das angeblich Verlorene des frühen Spracherwerbs problemlos aufholen und am Ende der obligatorischen Schulzeit beide Wege als zumindest gleichwertig angesehen werden müssen. Dies mit der Anmerkung, dass der Fremdsprachenerwerb auf der Primarstufe viel Unterrichtszeit bindet, die anderen Fachbereichen (namentlich Deutsch) abgehen. Das führt unter dem Strich zu keiner Festigung des Gelernten in keiner der drei Sprachbereiche, vor allem nicht in Deutsch – eine verheerende Hypothek für weitere Schul- und Studienjahre.
Fazit: Ein Disaster!
Man muss sogar feststellen, dass durch den aufgezwungenen frühen Erwerb von Fremdsprachen viele Schülerinnen und Schüler sich der Schule früh entfremden, also eben «früh fremd» werden. War das der Sinn der Übung?
SOL
«SOL» steht für selbstorganisiertes Lernen. Eine Zielscheibe, auf die die Reformturbos ihr Dauersperrfeuer eröffneten, war der sog. Frontalunterricht. Ein schrecklicher Begriff, der dem instruktiven Unterricht im Klassenverband die permanente Frontenbildung unterstellt und das Unterrichtsgeschehen geradezu zum Kriegsschauplatz erklärt.
Abgelöst sollte die lehrpersonenzentrierte, instruierende Unterrichtsform durch die Individualisierung: Die Schülerin/der Schüler bestimmt z. B. entlang eines Wochenplans, woran sie/er gerade arbeitet und das vor allem mit Arbeitsaufträgen und/oder Projekten – Atelier- oder Werkstattunterricht also. Was bis anhin löbliche Ausnahme vom pädagogischen Alltag war, wurde nun - wie so vieles Anderes auch - zur Norm erklärt. Verbunden damit war der Rollenwechsel der Lehrperson weg von der Instruktion hin zum Coaching.
Schnell einmal stellten sich bei den Schülerinnen und Schülern Ermüdungserscheinungen ein. Die spontan aus dem Boden gestampften Ateliers, in denen bis zu 60 (!) Lernende ihrer «Arbeit» nachgingen, waren vielerorts ein Ort der Unruhe und des Lärms – von konzentriertem Stofferwerb konnte nicht die Rede sein.
Die SOL-Entwicklung begünstigt hat die seit den Nullerjahren einsetzende Digitalisierung des Schulunterrichts, die auch noch so schöne Nebenerscheinung zeitigte wie die Verluderung jeglicher Handschrift und das Mobbing auf Social Media während der Unterrichtszeit. Aber hey – Hauptsache modern…
Ich möchte weder digitales Lernen noch eine gewisse Selbstorganisation im Unterricht verteufeln – es gilt der altbekannte Satz: Die Dosis machts. Schlimm ist m. E. die andauernde Hype-isierung angeblich pädagogischer Neuigkeiten. Einige erfahrene Lehrerinnen und Lehrer werden mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass beinahe alles, was in den letzten Jahren als der letzte Schrei angepriesen wurde, seit jeher, aber mit Mass umgesetzt worden ist.
Integration
Schülerinnen und Schüler vom Regelunterricht auszuschliessen und gesondert zu beschulen, war nach der Einführung des Gleichstellungsgesetzes kaum mehr ohne schlechtes Gewissen möglich. Allerorten wurde die sog. Integration vorangetrieben, was hiess, dass Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen fortan in Regelklassen zu unterrichten waren. Diese besonderen Bedürfnisse konnten körperlich, mental oder psychisch bedingt sein. Um Klassen- und Fachlehrpersonen nicht allein zu lassen mit dieser noch zusätzlich aufgebürdeten Last, fluteten Klassenassistenzen und heilpädagogisch geschultes Personal die Klassenzimmer. Die Folge: Ein ständiges Kommen und Gehen – ewige Unruhe!
Das Kind, das dann besondere Betreuung benötigte, wurde z. B. für eine Lektion aus dem Regelunterricht genommen. Dies meistens vor den Augen aller anderen (nein – das ist keine Stigmatisierung…) und verpasste natürlich all das, was in dieser Lektion in der Klasse lief. Ich bin versucht, zu bilanzieren: Dümmer geht’s nümmer! Oder aber, der gesonderte Unterricht fand in einer Ecke desselben Klassenzimmers statt. Natürlich ohne Lärmemissionen und Ablenkung (sic.)... Betroffene Lehrpersonen berichten zunehmend von totaler Erschöpfung durch diesen Irrsinn, was dazu führte, dass zum Beispiel in Baselstadt aktuell wieder die Einführung von Kleinklassen gefordert wird.
Ein einziges solches Kind in einer Regelklasse kann noch angehen. Doch aus Spargründen wurden Regelklassen mit bis zu einem Viertel mit «Integrierten» versehen. Hätte jemand den Auftrag erhalten, ein bewährtes Schulsystem innert kürzester Zeit zugrunde zu richten, so hätte er es exakt so ausführen müssen.
Auch hier gilt wieder: Integration ist nicht an und für sich schlecht, doch das Ganze muss massvoll auf Freiwilligkeit aller Beteiligten beruhen und evaluierend begleitet sein.
Haben die Noten ausgedient?
Zu dieser Frage habe ich in einem anderen Artikel bereits Stellung bezogen. Geht es aber nach der Agenda von Schulleitungs-Präsident Thomas Minder, dann müsste die Titelfrage dieses Abschnitts mit «ja» beantwortet werden. Bildungspolitik, Experten der pädagogischen Hochschulen und viele Schulleitende positionieren sich in dieser Frage klar gegen den Willen von Eltern und Lehrpersonen. Diese unheilvolle Päckli-Bildung habe ich während des ganzen Reformwahnsinns der beiden letzten Jahrzehnte feststellen müssen – nicht zum Wohl des Systems Schule.
Fazit
Ich stelle nochmals kurz zusammen, was in den letzten 24 Jahren alles umgebaut bzw. über den Haufen geworfen wurde und erlaube mir ein simples Urteil zur Aus- und Durchführung dieser Projekte. Ich muss leider feststellen, dass der Umbau der Schule Schweiz weitgehendst gescheitert ist. Die aktuellen PISA-Ergebnisse und andere Bildungserhebungen, sowie Rückmeldungen aus Wirtschaft und Industrie geben mir leider recht. Hinstehen und Verantwortung übernehmen wird niemand. Politik as usual…
Verursacht wurden immense Kosten und viel Verbitterung - vor allem bei den Unterrichtenden, aber auch bei frustrierten Eltern. Vieles, was angerichtet wurde, bilanziert sich erst später, z. B. wenn Studentinnen und Studenten an den Universitäten in der deutschen Sprache nachbeschult werden müssen. Krass!
Die Reformen in der Übersicht und das Urteil meinerseits dazu:
- HarmoS failed!
- Lehrplan 21 failed!
- Frühfremd failed!
- SOL failed!
- Integration failed!
- Keine Noten failed!
- Gesamturteil: failed!
Suivons la route…!
Daniel Vuilliomenet
ehemaliger Sekundarlehrer