09.08.2021
Deutliche Lerndefizite nach
Corona-Jahr
Gemäss der Lernforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich werden viele Schüler/-innen aufgrund der Schulschliessungen und dem damit verbundenen Fernunterricht Lese- und Rechenschwächen aufweisen, die kaum mehr korrigiert werden können. Trotzdem sollte wissenschaftlich abgeklärt werden, wie viele Kinder in welchem Ausmass betroffen sind. Die Bereiche Mathematik und Deutsch seien gemäss der Professorin durch die Pandemie besonders geschwächt worden. Soziale Unterschiede verstärken die Lage zusätzlich. In einem Interview mit den beiden BaZ-Journalisten Philipp Loser und Christian Züricher analysiert Elsbeth Stern die Konsequenzen.
Vor einem Jahr haben Sie an dieser Stelle über Corona und Schule gesprochen. Was hat sich seither verändert?
Es kam eine Erschöpfung dazu. Der erneute Lockdown im Herbst hat Spuren hinterlassen, die bis jetzt spürbar sind. Ich merke das in Gesprächen mit Lehrpersonen aus unserem Ausbildungsgang an der ETH und meiner Schulkommission. Viele beobachten, dass den Schülerinnen und Schülern alles zu viel wird, was von dem Gewohnten abweicht. Das betrifft gerade auch Aktivitäten, die ausserhalb des Unterrichts stattfinden und früher viel Spass gemacht haben.
Was war für die Schülerinnen und Schüler so erschöpfend?
Es kamen viele Sachen zusammen. Zum Beispiel die vielen Einschränkungen, spontane Treffen fielen weg, alles war plötzlich so umständlich und anstrengend. Das führte dazu, dass sie nicht mehr offen für Neues waren. Oder die Studenten hier an der Uni: Zur Prüfung müssen sie kommen, aber sonst dürfen sie ihre Kommilitonen nicht treffen, das hängt an. Ihnen wird gerade das Schöne genommen.
Was war besser im zweiten Jahr?
Die Technik wurde besser, man hat gelernt mit Zoom umzugehen. Die Software für grössere Onlineveranstaltungen hat sich auch verbessert. Man kann nun zwei, drei Stunden lang miteinander sprechen und präsentieren. Zugleich hat man gemerkt, dass Onlinekommunikation auch ihre Grenzen hat.
Die Pandemie hat also gezeigt, wie wichtig Präsenzunterricht ist?
Ganz klar. Das bestreitet niemand. Und was mir auch aufgefallen ist: Die Qualität der Arbeit leidet im Homeoffice, Fehler schleichen sich ein, weil die spontane Fehlerkorrektur im persönlichen Austausch fehlt.
Warum ist der Präsenzunterricht so wichtig?
Wir Menschen sind soziale Wesen, die sich regelmässig mit ihren Mitmenschen über die Bedeutung von Ereignissen abstimmen müssen. Sonst fühlen wir uns der Welt hilflos ausgeliefert. Dabei spielt die Glaubwürdigkeit der Kommunikationspartner eine grosse Rolle, und die lässt sich bei der persönlichen Begegnung besser beurteilen. Hinzu kommt natürlich das Übungsdefizit: Was die Kinder machen, konnte nicht so genau kontrolliert werden, und die meisten Kinder haben weniger gelesen, geschrieben und gerechnet.
Wie korrigiert man das?
Ich halte es für unheimlich wichtig, dass man ab jetzt testet, was die Kinder wirklich können, und nicht einfach sagt, die sind nun in der dritten Klasse und hatten schon zwei Schuljahre hinter sich. Tatsächlich wird es viele Primarschulkinder mit ausgeprägter Lese- und Rechenschwäche geben, die auf fehlende Lerngelegenheiten zurückzuführen ist.
Man soll testen, um Defizite zu erheben?
Unbedingt. Wir haben ja Vergleichsdaten. In der Vergangenheit hatten in der dritten Klasse so gegen 20 Prozent der Kinder grosse Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Heute werden es viel mehr sein.
Welches ist das anfälligste Fach?
Schriftsprache, denke ich. Vielen Kindern fehlt die regelmässige Übung. Das gilt aber auch für die Mathematik. Es reicht nicht, am Morgen Übungen zu machen und erst am Nachmittag ein Feedback zu bekommen. Die zeitnahe Rückmeldung ist ja gerade der Kern des Präsenzunterrichts. Hinzu kommen die sozialen Unterschiede.
Können Sie das ausführen?
Eltern mit höheren Ansprüchen werden zu Hause mit ihren Kindern geübt haben. Etwas, das bei sozial schwächeren Familien oder Eltern, die die Landessprachen nicht beherrschen, tendenziell weniger der Fall sein dürfte. Wie sollten die ihre Kinder unterstützen, selbst wenn sie es wollten? Darum ist es wichtig, dass man den Lehrpersonen Messinstrumente in die Hand gibt.
Wird es langfristig Unterschiede zwischen den Ländern geben? Frankreich oder Deutschland hatten zum Beispiel die Schulen viel länger geschlossen als die Schweiz.
Ganz sicher wird es diese Unterschiede geben. Häufig ist das überlagert mit anderen Faktoren, wie zum Beispiel dem Migrantenanteil. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass die Reichen während der Pandemie reicher geworden sind und die Armen ärmer, und Letzteres dürfte auch in der Bildung der Fall sein. Das zeigt sich innerhalb der Länder und auch zwischen diesen. Wer gute wohnliche Voraussetzungen hatte, konnte die Pandemie besser überstehen als jene ohne diese guten Bedingungen.
Eltern, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder nun in den Sommerferien in Lernkurse, das verstärkt diese Tendenz, nicht?
Das kann sein. Darum ist es besonders wichtig, dass man niederschwellige Kurse anbietet, die alle besuchen können.
Ist es gesund für die Gesellschaft, solche Kurse anzubieten?
Warum nicht?
Sie können die Ungleichheiten noch verstärken.
Sie sollten keine Kosten verursachen und der Zugang sollte nicht sozial selektiv sein. Wer Interesse und Leistungsbereitschaft zeigt, sollte unterstützt werden. Wir sollten nicht vergessen, dass auch leistungsstarke Kinder Unterstützung brauchen, und wir dürfen nicht nach unten nivellieren. Wir müssen die Defizite jetzt aufholen. Wir wollen keine Analphabeten haben, und wir brauchen an den Universitäten Studenten mit solidem Wissen.
Wie geht das?
Alle Kinder müssen die Erfahrung machen, dass Lernen anstrengend ist und dass sich Anstrengung lohnt. Kompetenzerleben hat etwas sehr Verstärkendes.
War es im Nachhinein ein Fehler, die Schulen zu schliessen?
Nein. Wir wussten ja nicht, wie stark Kinder betroffen sind und welche Gefahr von ihnen ausgeht – für sie selbst und für andere.
Sie waren vergangenen Herbst dagegen, dass man die Schulen wieder schliesst.
Das ist auch nicht geschehen, das hat man gut gemacht. Man hat darauf geachtet, dass es wenigstens Halbklassen- oder Teilunterricht gab. Gefährdete Lehrpersonen durften von zu Hause aus unterrichten.
Sie sprechen die Lehrpersonen an: Diese hatten eine harte Zeit.
Ja. Die meisten haben das Beste daraus gemacht. Die Frage für sie ist nun auch: Wie kommen sie in die Normalität zurück? Wir alle haben Alltagsroutinen verlernt und diese zurückzubekommen, wird anstrengend. Darum sollte man sich nicht zu viel vornehmen. Es braucht jetzt einen gesunden Pragmatismus.
Wie nahe sind wir dran, an dieser neuen Normalität?
Das hängt von der Impfbereitschaft ab, auch in der Schule. Wir haben einfach das Problem, dass es Leute gibt, die immer noch zögern. Da merkt man, dass viele Leute nicht gelernt haben, Risiken gegeneinander abzuwägen. Die Frage wird auch sein, wie viele Lehrpersonen sich impfen lassen. Das wird das nächste heikle Thema ganz allgemein in der Arbeitswelt sein. Wie geht man mit Ungeimpften um? Haben sie im Zweifel ein lebenslanges Recht auf Homeoffice? Das wird, so glaube ich, im Herbst noch ordentlich Zoff geben.
Wenn man sich schon jetzt Gedanken über die neue Normalität macht: Was können wir aus der Pandemie mitnehmen?
Wie wichtig persönliche Begegnungen sind und all die inoffiziellen Dinge, die neben dem Unterricht auch zu Schule und Ausbildung gehören.
Sachen wie Ferienlager und Schultheater?
Ja! Weil man in einem solchen Rahmen die Mitmenschen auf eine andere Art kennen lernt und weil Kinder dort Kompetenzen einbringen können, die sie sonst kaum je zeigen können. Darum ist gemeinsamer Sportunterricht wichtig, das Theaterspielen oder eben ein Ferienlager. Das sind alles inoffizielle Lerngelegenheiten, bei denen man idealerweise anwenden kann, was zuvor im Unterricht gelernt wurde. Es kann nervig sein, im Unterricht hundertmal zu üben, korrekte Sätze zu schreiben. Wenn man danach aber selber ein Theaterstück schreiben und spielen kann, gibt das einem das Gefühl, es sei eben doch sinnvoll gewesen, was man gelernt hat. Das wird jetzt zum Glück wiederkommen.
Und was wird aus der Zeit der Krise bleiben?
Wir sind jetzt an einer Schwelle, wo wir den Computer lernwirksam im Unterricht einsetzen können. Wir können gute Lernfilme nutzen, über die man mit den Lernenden sprechen kann, und das Üben von Vokabeln oder Rechenverfahren lässt sich mit dem Computer adaptiv, d. h. dem Leistungsniveau angepasst, gestalten. Dass wir diese Möglichkeiten nun vermehrt einsetzen können, haben wir auch der Pandemie zu verdanken.
Wächst da jetzt eigentlich eine selbstständigere Generation heran? Eine, die sich in der Not selber zu helfen weiss?
Da bin ich skeptisch. Man darf das nicht romantisieren. Meine Mutter wuchs als Kriegskind in Deutschland auf und konnte fast zwei Jahre nicht zur Schule gehen. Unter den vermeintlichen und tatsächlichen Defiziten hat sie ein Leben lang gelitten. Auch heute gibt es junge Menschen, die in einer kritischen Lebensphase daheimbleiben mussten. Das kann man denen nicht mehr zurückgeben, das wird bleiben.
Lena Heitz
Sekretariat Starke Schule beider Basel
[Quelle: Interview Bazonline vom 08.08.2021]