12.06.2025
Der Rettungsversuch der Fremdsprachendidaktiker
Die Fremdsprachendidaktiker der Pädagogischen Hochschulen der Schweiz reagieren mit einem Synthesepapier Sprachenunterricht: Zwei Fremdsprachen ab der Primarstufe vom 27.03.2025 [1] fast schon verzweifelt auf die Forderungen nach einer Änderung des Sprachenkonzepts. Es gleicht einem Appell an die Entscheidungsträger im Schulbereich, sich nicht vom eingeschlagenen Kurs abbringen zu lassen.
Seit 2004 gibt es die gesetzliche Grundlage, wonach ab dem 3. Schuljahr die erste, ab dem 5. Schuljahr die zweite Fremdsprache in der Primarschule unterrichtet werden muss. Eine der Sprachen muss eine Landessprache sein. Seit etwa 2010 wird das Konzept flächendeckend umgesetzt mit Lehrmitteln, die explizit dafür geschaffen wurden und eine ganz neue Lehrmethode enthalten, die sogenannte Mehrsprachigkeitsdidaktik.
Inzwischen sind jedoch starke Zweifel an der Effizienz des damaligen Konzeptes aufgetaucht, denn die Erfolgskontrollen, die in Französisch durchgeführt wurden, waren alles andere als berauschend:
1. Die mit summa cum laude bewertete Masterarbeit von Susanne Zbinden [2]
2017 legte Susanne Zbinden ihre Masterarbeit vor, in der sie 500 Realschüler(innen) mit 43 Aufgaben darauf testete, wie gut sie französische Texte verstehen. Je die Hälfte der Getesteten hatten mit den Lehrmitteln der Mehrsprachigkeitsdidaktik (Mille feuilles und Clin d’Oeil) und mit dem bisherigen Buch (Bonne Chance) gearbeitet. Das Resultat war eindeutig, obwohl der Test sich textlich auf die neuen Lehrmittel bezog: Die Schüler*innen mit dem älteren Lehrmittel waren hoch signifikant besser im Leseverständnis.
Zbinden ging den Ursachen nach und stellte gravierende Fehlüberlegungen bei der neuen Didaktik fest, wie sie aus der von ihr konsultierten internationalen Fachliteratur belegen kann:
- Das Fehlen von Wortschatz- und Grammatikkenntnissen erschwert das Textverständnis.
- Die stark betonte Förderung von Strategien zur Erschliessung des Verständnisses nützt wenig. Strategien greifen erst ab einer Kompetenzstufe C1, sind also im Schulbereich noch nicht erfolgversprechend.
- Die ausschliessliche Verwendung von authentischen Texten im Anfangsunterricht wird wegen der Dichte von neuem Sprachmaterial, das verwirrt und ablenkt, nicht empfohlen.
- Die Tatsache, dass in den neuen Lehrmitteln vieles nur angetroffen, aber nicht verbindlich gelernt wird, hinterlässt zu wenig Sprachwissen, das zum Verständnis von Texten notwendig ist.
2. Der Evaluationsbericht Wiedenkeller/Lenz von 2019 [3]
2019 veröffentlichten Eva Wiedenkeller und Peter Lenz die Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse in den sechs Passepartout-Kantonen.
«Für die Passepartout-Kantone galt … als Grundanforderung nach 4 Jahren Französisch das Niveau A2.1. …: Nur 33% schafften das Leseverstehen und 57% das Hörverstehen. Richtig niederschmetternd waren hingegen die nur vom IfM geprüften Sprechkompetenzen: Ganze 42,5 % schafften das Niveau A1.2 und gar nur 11 % das von Passepartout anvisierte Niveau A2.1.»
Ausserdem stellten sie fest, dass die Motivation für Französisch bei den Kindern sehr tief war. Die Autoren nannten ähnliche Verbesserungsvorschläge wie S. Zbinden.
3. Die Überprüfung der Grundkompetenzen in den Sprachen von 2023 [4]
Schweizweit verstehen nur 58% der Jugendlichen, was sie hören, und nur 51%, was sie lesen, wenn sie die obligatorische Schule verlassen. Das heisst, über 40% der Schulabgehenden verstehen nicht, was sie hören, und fast die Hälfte versteht nicht, was sie liest.
4. Pseudowissenschaft. Die Untersuchung von R. Berthele [5]
In seinem Aufsatz im Journal of the European Second Language Association geht Ralph Berthele, Professor für Mehrsprachigkeit an der Universität Fribourg, auf mehrere Studien von Schweizer PH-Dozenten ein, die auch im vorliegenden Thesenpapier wieder angeführt werden: z.B. Le Pape, Haenni Loti, Manno. Er entlarvt wissenschaftlich unzulässige Manipulationen, um Effekte nachzuweisen, welche die Studien gar nicht hergeben:
- Nachträgliches Abändern von Hypothesen
- Korrelationen als Kausalitäten ausgeben, obwohl andere mögliche Parameter nicht untersucht wurden
- Verschweigen von Zweitstudien, welche die Effekte der Erststudie nicht bestätigten
- spekulative Hypothesen als evidenzbasierte Erkenntnisse ausgeben
- unzulässige Übertragungen von Wirkungen bei erwachsenen Linguistikstudenten auf Volksschüler, etc.
5. Die Reaktion der Bevölkerung
Längst ist in der Öffentlichkeit ruchbar geworden, dass der Französischunterricht «für die Füchse» ist. Im Kanton Baselland erhielt das Stimmvolk im Herbst 2019 durch eine Initiative der Starken Schule beider Basel die Möglichkeit, über die Lehrmittel Mille feuilles und Clin d’Oeil abzustimmen. Fast 85% stimmten für die Lehrmittelfreiheit, was im Endeffekt die Abwahl des obligatorischen Französischbuches bedeutete. Auch über den grossen Missmut in der Bevölkerung verliert das Papier von Egli Cuenat et al. kein Wort.
6. Die Masterarbeit Henzi zu Clin d’Oeil [6]
Henzi misst die Vorgaben, welche sich die Autoren des Buches zum Ziel gesetzt haben, an der konkreten Umsetzung in Clin d’Oeil. Er zeigt auf:
- Die Autoren setzen auf den natürlichen, ungesteuerten Spracherwerb via motivierende Sachtexte, durchbrechen diese Absicht jedoch mit Sprachreflexionen, Lernstrategien, Wortschatzlisten. Das Ziel des natürlichen Spracherwerbs müsste mit immersivem Unterricht in Sachfächern angestrebt werden.
- Clin d’Oeil enthält unbestrittenermassen hervorragendes authentisches Material, allerdings ist es didaktisch zu wenig aufbereitet, so dass die Jugendlichen nicht wirklich zum Verstehen und Memorieren angehalten werden, sondern in einer Art Sight-Seeing (Anhören, Anschauen, Durchlesen) darüber hinweggehen, ohne dass Erinnerungsspuren gelegt werden.
- Dadurch, dass sich das Material an muttersprachigen Gleichaltrigen orientiert, ist es für Französischlernende sprachlich zu schwierig, insbesondere für Schwächere. Bei ihnen verpufft der grosse editorische Aufwand wirkungslos, wenn nicht eine viel intensivere Didaktisierung geleistet wird.
- Die Vorgabe, Aufgaben zu stellen, die echtes Sprachhandeln fordern, wird nicht eingelöst. Es überwiegen Aufgaben, die rein reproduktive Tätigkeiten verlangen, wie Ablesen, Zuordnen, Zusammenstellen von Äusserungen aus Listen, Vorlesen von Sätzen oder auswendig gelerntes monologisches Sprechen. Dies aber ist nicht echtes kommunikatives Handeln. Das Verbot von Rollenspielen und Simulationen engt die Möglichkeiten zum Erwerb von Kommunikationsfähigkeit zu stark ein.
- Der Wortschatzaufbau krankt daran, dass das Vokabular eines thematischen Feldes nicht systematisch aufgebaut, sondern über die Bände des Lehrmittels verstreut vorkommt. Unter schulischen Bedingungen kann sich deshalb der Grundwortschatz nicht konstruktivistisch aufbauen. Zudem werden zu wenige Nomen vermittelt.
- Fehlerhafte Äusserungen werden in den Unités als «funktionale Mehrsprachigkeit» akzeptiert, die Korrektheit wenig geübt. Hingegen wird in den Abschlussübungen (tâches) plötzlich korrekter Sprachgebrauch vorausgesetzt.
Fazit
Das der Politik vorgelegte Thesenpapier stützt sich also auf Studien, deren Wissenschaftlichkeit stark von positiven Hoffnungen und unzulässigen Manipulationen geprägt ist und einer ernsthaften seriösen Nachprüfung nicht standhalten. Es geht wohl in erster Linie darum, liebgewordene Positionen aufrecht zu erhalten, die inzwischen in verschiedener Hinsicht anfechtbar geworden sind.
Hier nun eine Aufzählung der Faktoren, die das Sprachenkonzept und den Frühfremdsprachenunterricht als falsches Konzept erkennen lassen:
- Die ÜGK schlüsselt auf, dass der Erfolg des Fremdsprachenunterrichts, insbesondere des Französischunterrichts, stark abhängt von den kognitiven Grundfähigkeiten der Kinder und Jugendlichen: Die Grundkompetenzen erreichen beispielswese in BS [7]:
| | Grundniveau | erweitertes Niveau | Progymnasium |
| Hörverstehen | 15% | 44% | 83% |
| Leseverstehen | 8% | 27% | 80% |
Die Werte der anderen Kantone können dem Bericht Erzinger et al. entnommen werden. Diese Heterogenität in der Aufnahmemöglichkeit von Fremdsprachen wird von den Autorinnen und Autoren des Synthesepapiers in keiner Weise angeschnitten. Allenfalls ist die Rede von Massnahmen, die für die Schwächeren zusätzlich ergriffen werden müssten.
- Das Synthesepapier legt Wert auf den Unterricht in einer zweiten Landessprache als politisch notwendige Garantie für den Zusammenhalt der Nation. Angesichts der Tatsache, dass 40 – 50 Prozent des Jahrgangs der 15-Jährigen kein Französisch versteht, stellt sich die Frage, inwiefern dies tatsächlich die sieben Jahre Unterricht in der Fremdsprache rechtfertigt. Wäre gegenseitige Verständigung das Ziel, wäre vermutlich ein anderes Kommunikationsmittel nützlicher. Da Englisch in allen Landesteilen besser verstanden wird und offensichtlich grösseren Lernerfolg zeigt, könnte diese Lingua Franca zumindest bei den Schwächeren des Grundniveaus und der erweiterten Anforderungen die Verständigung im anderssprachigen Landesteil eher garantieren. Die Vermutung liegt nahe, dass hier einem nutzlosen Werkzeug magische Kräfte zugedacht sind, die dieses in Wirklichkeit gar nicht haben kann.
- Das Autorenteam des Synthesepapiers wünscht sich die Optimierung des Stufenübergangs von der Primar- in die Sekundarschule: «Allzu oft kommt es beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe zu Brüchen. Dies geschieht, wenn das bereits Erworbene vor allem als defizitär betrachtet und wieder “bei null begonnen” wird oder wenn nach einem kommunikativen Unterricht in der Primarstufe in der Sekundarstufe oder im Langzeitgymnasium plötzlich primär auf formale Aspekte fokussiert wird.»
Hier klingt ein ganz grundsätzliches Problem an, das die PH-Dozenten sträflich ignorieren: Die Bedingungen des Fremdsprachenlernens. Um auf etwas aufbauen zu können, muss eine Grundlage, irgendwelche sprachlichen Kenntnisse oder Handlungsmuster, vorhanden sein. Die Kolleginnen und Kollegen der abnehmenden Schulen stellen jedoch fest, dass da nichts vorhanden ist: wenig Hörverstehen, kein Leseverstehen, keine mündliche oder schriftliche Ausdrucksfähigkeit. Mit anderen Worten: Bei einem grossen Teil der Übertretenden aus der Primarschule gibt es nichts «Erworbenes», das als «defizitär» betrachtet werden kann, wie die PH-Leute es sich vorstellen.
Der Grund liegt in einer Nichtbeachtung des menschlichen Gedächtnisses. Dies hat zwei wichtige unterschiedlich wirksame Funktionen beim Sprachenlernen: Das deklarative Gedächtnis nimmt Wissen über Sprache auf (Wörter, Satzmuster, semantische und grammatische Formen, Schreibweisen, kulturelles Wissen). Dieses Wissen braucht es, um sich die Sprache als bedeutungstragende Symbolstruktur zu erschliessen. Um die Sprache jedoch passiv und aktiv einsetzen zu können (Hör- und Leseverstehen, Sprechen, Schreiben) um also mit Sprache handeln zu können, muss dieses Wissen ins prozedurale Gedächtnis, auch Arbeitsgedächtnis, überführt werden. Das heisst: Es muss automatisiert werden wie das Schuhebinden, das Autofahren. Unentwegtes Üben und Anwenden sind die Bedingung, um sprachlich «handlungsfähig» zu werden. Es muss ohne deklarative Anstrengung abrufbar werden. Erst dann gibt es etwas «Erworbenes».[8]
«Spracherwerb» so verstanden setzt allerdings intensive Gedächtnisarbeit voraus. Mit drei und zwei Wochenlektionen Französisch (oft noch als Doppelstunden im Pensum zusammengelegt) kann das zu Lernende nicht nachhaltig aufgenommen werden. Es wird sofort wieder vergessen. Bei der von den Autoren des Thesenpapiers favorisierten Lehrmethode wird diese Tatsache nicht beachtet. Das Resultat: Weder im deklarativen noch im prozeduralen Gedächtnis wird etwas verankert, was nutzbar wäre für einen aufbauenden Unterricht.
Deshalb ist die Frage «Frühfranzösisch» ja oder nein, nicht die entscheidende Frage. Wesentlich ist vielmehr die Intensität, mit der das Gedächtnistraining stattfinden kann. Bei Französisch, das für Deutschschweizer strukturell weiter entfernt ist als Englisch, sind fünf Wochenlektionen, verteilt auf fünf Tage, das Mindeste, was erforderlich ist, um Gedächtnisspuren dauerhaft zu legen.
Felix Schmutz
[2] Zbinden, Susanne: Leseverstehen mit altem und neuem Lehrmittel im Vergleich. Eine empirische Studie über das Verstehen von französischen Texten auf der Sekundarstufe 1. Universität Freiburg (CH), 2017.
[3] Wiedenkeller, Eva/ Lenz, Peter: Schlussbericht zum Projekt ‚Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen‘, 2019.
[4] Erzinger, A. B., Angelone, D., Locher, F. M., Prosperi, O., Salvisberg, M.,
& Tomasik, M. J. (Hrsg.). (2025). Nationaler Bericht zu der Überprüfung des Erreichens der Grundkompetenzen (ÜGK) 2023, Sprachen 11. Schuljahr: ein Beitrag zum Schweizer Bildungsmonitoring. Interfaculty Centre for Educational Research (ICER), Universität Bern. https://doi.org/10.48620/85368
[5] Berthele, R. (2019). Policy recommendations for language learning: Linguists’ contributions between scholarly debates and pseudoscience. Journal of the European Second Language Association, 3(1), 1–11. DOI: https://doi.org/10.22599/jesla.50
[6] Christian Henzi, Clin d’oeil - Ein Lehrmittel in der Kritik, Eine umfassende Analyse des Französisch-Lehrmittels auf Sekundarstufe 1, Masterarbeit, Eingereicht bei der pädagogischen Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW), 2021.
[8] Lutz Jäncke. Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften, Zürich, 2024. Kapitel 14 – 16.