06.10.2024 - Basler Zeitung
Bekanntester Lehrer der Schweiz fordert Mustafa Atici
«Wieso sind Basler Schüler so schlecht?» Alain Pichard, Praktiker und kritischer Begleiter des Bildungssystems, ist seit über 40 Jahren im Klassenzimmer tätig. Im Streitgespräch duelliert er sich mit dem SP-Regierungsrat.
Man mag es ja nicht mehr hören, aber manchmal ist die Wahrheit einfach: ziemlich schmerzhaft. Basels Schulen, Basels Schüler: Ihr Ruf war auch schon mal besser. Dabei leistet man sich gemäss Bundesamt für Statistik im kantonalen Vergleich doch die teuersten Schüler. Die dafür die schlechtesten sind. Man hat, natürlich, eine Mega-Maturitätsquote. Dafür aber die meisten Studienabbrecher. Eine weitere unerfreuliche Folge dieses Akademisierungswahns: Städtische Betriebe stellen lieber Lehrlinge von ausserhalb an. Von der Landschaft, aus Solothurn, dem Aargau. Die Berufsbildungsquote, in der Schweiz sowieso nicht zufriedenstellend, ist in Basel selbstverständlich noch einmal tiefer. Nur 85 Prozent aller 25-Jährigen haben einen Berufsabschluss. Ist die Basler Schule noch zu retten? Und wie kann eine solche Misere überhaupt entstehen, in einem so reichen Kanton? Ist es eine Form spätrömischer Dekadenz? Wird es wie in Sodom und Gomorrha?
Vielleicht, vielleicht ändert sich da aber gerade doch etwas, schliesslich ist seit Mai dieses Jahres ein neuer Erziehungsdirektor im Amt: Mustafa Atici, Sozialdemokrat, Unternehmer. Er will es besser machen als seine beiden liberaldemokratischen Vorgänger, die sich noch für jede - schiefgegangene - Reform begeistert haben. Okay, mittlerweile ist das auch nicht mehr sakrosankt; es entbehrt etwa nicht einer gewissen Ironie, dass Christoph Eymann, jahrelang einer der vehementesten Verfechter der integrativen Schule, diese in der «SonntagsZeitung» kürzlich kritisiert hat. Aber wie nur will das Atici gelingen? Will ers wirklich? Und: Ist das überhaupt möglich?
Diese Fragen gehen auch an Alain Pichard. Der «bekannteste Lehrer der Schweiz» («SonntagsZeitung») wirkt seit 45 Jahren in den Klassenzimmern dieses Landes. Pichard (68), eigentlich längst pensioniert, unterrichtet auch jetzt wieder als Vertretung an einer Brennpunktschule in Biel. Weil er es nicht lassen kann. Weil es ihn immer noch braucht (Lehrermangel). Der in Basel aufgewachsene Pädagoge ist einer der schärfsten Kritiker des Lehrplans 21 - und vieler Schulreformen der letzten Jahre. Frühfranzösisch, frühere Einschulung, Integration, Digitalisierung, Individualisierung. «Vieles ist schlicht und einfach gescheitert.» Einst politisch für die Grünen aktiv, ist er seit 2016 bei den Grünliberalen tätig - und seit zwei Jahren ist er Grossrat im Kanton Bern. Pichard, das kann man sagen, ist einer, der seine Meinung sagt, offen, kompromisslos, aber immer dialogbereit. Im Frühjahr dieses Jahres hat er in einem Podcast der «Basler Zeitung» gesagt - es war gerade Wahlkampf, Atici war erst Kandidat fürs Erziehungsdepartement -, dass der SP-Mann nicht «so viel Ahnung von Bildung» habe. In den Reihen der Genossen war man darüber empört. Atici dagegen nahms gelassen, zumindest gegen aussen, sofort sagte er zu, sich seinem vielleicht pointiertesten Kritiker zu stellen. Er wird auch wissen, dass er nur der Empfänger von Pichards Botschaften ist.
Der eigentliche Adressat ist das Erziehungsdepartement. Und in rund 150 Tagen im neuen Job kann man, auch wenn man nun Chef ist, nicht wahnsinnig viel gewinnen, aber auch nicht viel verlieren. Trotzdem muss Atici bereits wieder wahlkämpfen. Für sich werben, seine Ideen präsentieren, sie verteidigen. Gegen Pichard ist das, erfahrungsgemäss, nicht immer ganz einfach. Doch das Gespräch beginnt mit einer Überraschung.
Pichard: Ich muss Ihnen gleich etwas sagen, Herr Atici. Als ich gesagt habe, dass Sie nicht so viel Ahnung hätten in gewissen Bildungsfragen: Da habe ich danach ordentlich aufs Dach bekommen von Roland Stark, unserem gemeinsamen Freund. Ich möchte das in unserem Duell nachher gern differenziert ausführen.
Atici lächelt milde, er mag diese Debatten sogar, wie er sagt, «ohne Scheuklappen», auch mit Kritikern. Er will nicht nur Jasager um sich haben, er will von den Menschen ehrliche Meinungen hören. Bei Pichard ist das kein Problem.
Pichard: Als Lehrer muss ich Ihnen gratulieren. Pro Schüler wendet Ihr Kanton 25’000 Franken pro Jahr auf. Schade nur, dass dieses löbliche Engagement in der Bildung in miserablen Ergebnissen mündet.
Atici: Da gebe ich Ihnen insofern recht, als die Leistungen besser werden müssen. Aber ich wehre mich, wenn es heisst, dass wir einfach Geld für nichts ausgeben. Wir haben grosse Probleme beim Schulraum, da geben wir für Neubauten viel aus, wir rüsten massiv auf, um der Digitalisierung gerecht zu werden. Und man muss auch sehen: Es ist normal, dass in einem Stadtkanton mehr Probleme vorhanden sind. Wir haben viel mehr Schülerinnen und Schüler, die Sondersettings brauchen. Das kostet auch.
Pichard: Ich bin froh, dass Sie nun nicht gesagt haben, dass dies allein wegen der hohen Quote an Kindern mit Migrationshintergrund so ist. Früher haben Sie sich jedoch - wie auch Ihre Vorgänger - so verlauten lassen. Denn das kann nicht der Grund sein. In Biel etwa, wo wir mindestens so viele Migrantenkinder haben, sind die Kosten pro Schüler viel kleiner. Aber ich frage Sie nochmals: Wieso sind die Ergebnisse trotz solch horrenden Ausgaben so schlecht?
Atici: Es gibt, wegen der angesprochenen Herausforderungen, eine gewisse Überforderung im System. Aber ich möchte unbedingt betonen: Das hat nichts mit den Lehrpersonen zu tun. Sie machen einen hervorragenden Job.
Der Regierungsrat sagt diesen Satz mit Nachdruck. Viele Lehrer waren nicht nur glücklich, als in der BaZ im August über ein Atici-Interview getitelt wurde: «Es braucht von den Lehrern mehr Engagement». Diese Berufsgattung wird ungern kritisiert - was man nachvollziehen kann, wenn man bedenkt, wie stark die Bürokratie gestiegen und das Ansehen gesunken ist. Natürlich: Das war in erster Linie eine Kritik an die BaZ, die eine Teilaussage Aticis durchaus prägnant dargestellt als Titel ausgewählte hatte. Aber es war auch zu hören, dass die Überzeugungen ihres obersten Chefs auch nicht gerade allen gefallen haben. Wars zu wenig sozialdemokratisch? Zu unternehmerisch, zu sehr mit Fokus auf die Berufslehre?
Alain Pichard lächelt, als er diesen Sätzen lauscht. Er weiss, wie heikel es ist für einen Exekutivpolitiker, sich mit den Lehrern (eine grosse, wichtige Wählergruppe, gerade für Sozialdemokraten) anzulegen. Auch er ist in seiner eigenen Zunft nicht nur beliebt, um es vorsichtig auszudrücken.
Pichard: Wir müssen die Realität ansprechen. Doch das fällt vielen Lehrern schwer. Ein Beispiel: Wir reden immer über die verhaltensauffälligen Schüler. Die sind schwierig, ohne Zweifel. Es gibt aber ganz viele Schüler, die sind leistungsschwach, aber sehr lieb, sehr ruhig. Zwischen diesen und den Lehrern gibt es ein katastrophales Agreement. Der Schüler tut so, als würde er lernen und verstehen. Und der Lehrer tut so, als würde er es glauben. So geschehen zwei schlechte Dinge gleichzeitig: Probleme bleiben unausgesprochen und folglich ungelöst. Und der Schüler wird viel zu wenig gefördert, eigentlich auf ein Abstellgleis gestellt.
Atici: Damit mehr Ruhe einkehrt und auch die stillen Schülerinnen und Schüler, ob stark oder schwach, besser miteinbezogen werden, werden ja nun dort, wo sie nötig sind, Förderklassen kommen. Dahinter stehe ich. Ich bin sehr froh, sieht dies das Parlament auch so. Das ist ein erster wichtiger Schritt.
Pichard: Das unterstütze ich, und ich möchte Sie für Ihre Haltung beglückwünschen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Bei der integrativen Schule war viel Wunschdenken dabei. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sage: Kleinklassen brachten Schutz - und nicht Stigmatisierung für die Kinder.
Das ist in Basel-Stadt aber weiterhin eine Minderheitsmeinung. Selbst den nun beschlossenen Kompromiss, der die Förderklassen-Initiative obsolet macht, sehen (vor allem linke) Politiker und Verwaltungsangestellte im Erziehungsdepartement nach wie vor kritisch. Aber immerhin: Wenn eine Schule künftig nach Förderklassen ruft, dann dürften diese kommen. Weiterhin im Fokus stehen aber auch Lerninseln und Fördergruppen. Pichard fragt deswegen provokativ: «Haben Sie Ihr Departement im Griff? In Basel gibt es ja das Bonmot: Im Erziehungsdepartement ist es der Verwaltung egal, wer ihnen als Regierungsrat unterstellt ist.» Atici lacht und kontert: «Das sagt man ja auch beim Bundesrat. Damit komme ich klar. Ich bin der Chef, ich möchte entscheiden - und werde das auch tun.»
Was braucht es dann, um die Leistungen der Basler Schülerinnen und Schüler zu verbessern, mehr Berufsabschlüsse zu erreichen und die Lehrer zu entlasten?
Atici: Wichtig ist, und damit sprechen wir gleich alle Punkte an, dass wir jetzt sofort schauen: Welche Massnahmen braucht welcher Schulstandort? Es ist klar: Nicht überall braucht es Förderklassen. Aber dort, wo die Missstände offenkundig sind, sollen sie schon nächstes Jahr da sein. Dann: Wir müssen zwingend einen besseren Austausch zwischen den Eltern und den Schulen hinkriegen.
Pichard: Da bin ich völlig bei Ihnen. Die Eltern dürfen die Erziehung nicht den Schulen überlassen. Das geschieht immer mehr. Nur wenn den Eltern klargemacht wird, für was die Schule da ist - und für was nicht -, kann dieses Verständnis gefördert werden. Und, noch wichtiger: Die Eltern müssen an ihre Pflichten erinnert werden.
Atici: Das fordere ich seit 15 Jahren. Es kann nicht sein, dass alles an den Lehrpersonen hängen bleibt. Jetzt scheint mir, dass Kompromisse möglich sind. Früher haben mir Linke gesagt: Du verlangst zu viel von Migrantinnen und Migranten. Und die Rechten sagten: Du produzierst zu viel Bürokratie. Heute scheint mir hier mehr Ehrlichkeit und Realitätssinn da zu sein. Das ist positiv.
In dieser Endphase des Gesprächs finden sich die beiden Diskutanten immer öfter. Pichard lobt: «Sie sind an Ergebnissen interessiert. Ich auch. Was wirkt, was wirkt nicht?» Und Atici gibt zurück: «Natürlich, ich kenne das ja als Unternehmer. Ich kann keine Bilanz verdrehen, nur weil es mir nicht passt. Also sage ich nicht: Alles kommt gut. Sondern ich stehe hin und gebe Ziele vor, weil ich etwa die schlechte Berufsbildungsquote nicht akzeptieren kann.»
Sicherlich, ginge es nach Pichard, könnte man ruhig mehr auf die Weisheit der Praxis vertrauen. «Viele Reformen haben sich nicht bewährt oder sind gescheitert. Man sollte den Mut haben, diese zurückzubauen.» Weniger Geld für «Prunkbauten» - er meint neue teure Schulhäuser -, weniger Digitalisierungswahn («Kinder sind keine Studenten»). Hier ist Atici weniger kritisch, etwa beim Geldausgeben oder bei den digitalen Hilfsmitteln. Man kann sich aber auf etwas einigen. Dass es in der Schweiz, selbst in Basel-Stadt, immer noch einigermassen gut ist, dieses Bildungssystem - und dass man ihm zwingend Sorge tragen muss. Mehr denn je.
Pichard: Wir haben zwar noch keine No-go-Schulen wie in anderen Ländern, aber die pädagogische Situation ist in vielen Klassenzimmern beunruhigend. Wir haben immer mehr Lehrkräfte ohne Ausbildung. Die Leistungen sinken. Die Schüler gehen zu lange in die Schule und hängen am Schluss des Tages in den Seilen. Ein Lektionenabbau würde Ressourcen frei machen für einen qualitativ besseren Unterricht.»
Atici: Zum Glück haben wir noch keine No-go-Schulen. Wir werden alles daransetzen, dass unsere Kinder mit den besten Voraussetzungen unterwegs sind, dass sie mit einem starken Rucksack für die weiterführenden Schulen und die Arbeitswelt bereit sind. Etwas anderes können wir uns nicht leisten. Wir sind ein Bildungs-, Forschungs- und Innovationskanton. Und ich sage Ihnen noch etwas: Ich habe in meinem Politikerleben einige private Termine verpasst, aber nie die Elternabende meiner zwei Buben. Bildung ist das Wichtigste für unsere Kinder.
Pichard: Wir müssen einfach aufpassen, dass dies auch so bleibt. Und uns nicht damit zufriedengeben, besser als das Ausland zu sein. Einen Anteil von 25 Prozent an Schülerinnen und Schülern, die nicht lesen und schreiben können, dürfen wir nicht hinnehmen, auf keinen Fall. Wir müssen wieder besser werden. Und nicht einfach immer teurer.
Sebastian Briellmann
Journalist der Basler Zeitung
[Quelle: Basler Zeitung vom 29. September 2024, abgedruckt mit Erlaubnis der BaZ]